Endstation Bosporus
(Reisebericht)
Gallipoli, 29. Juli 1914
Schalom, werte Leser,
bitte lassen Sie sich durch meinen momentan Aufenthaltsort nicht verwirren, doch leider war es mir nicht früher möglich, mich wieder an Sie zu wenden. Zu sehr hatte der Orient-Express inzwischen an Fahrt aufgenommen und war selbst durch den mehrfachen Einsatz meines Lebens nicht mehr aufzuhalten! Und auch, wenn mein neuer, vierbeiniger Freund hier neben mir in diesem Hotelzimmer mit seinem Gebell offenbar protestieren möchte, so können sie beruhigt sein: natürlich werde ich Ihnen auch weiterhin nahtlos berichten, was sich seit Budapest zugetragen hat! Insofern Sie aufgrund anderer aktueller Geschehnisse momentan keine anderen Probleme haben, versteht sich...
[Einen Leckerli später]
Als meine Begleiterin und ich bemerkten, dass der Zug seine Fahrt durch den Bahnhof der ungarischen Hauptstadt einfach fortsetzte, anstatt plangemäß dort zu halten, war es auch bereits zu spät, der Sache auf den Grund zu gehen. Die Serben waren im Begriff, den Zug zu kapern, und stürmten unser Quartier! Es folgte ein Gerangel auf den Gängen, wobei der Herr, der mit seinem Harem den halben, hinteren Schlafwagen belegt hatte, erschossen wurde, und meine Wenigkeit kurz darauf mit einem gekonnten Schlag ins Genick das Bewusstsein verlor. Es vergingen so einige an Stunden, bis ich gefesselt und geknebelt auf dem Boden des Gepäckwagens wieder zu mir kam. Doch lange konnte mich so ein serbischer Knoten natürlich nicht aufhalten - schließlich hatte ich zur Sicherheit immer ein paar Zündhölzer dabei!
Gegen den anschließend plötzlich aus dem Nichts auftauchenden Serben half jedoch auch kein Holz mehr und ich musste persönlich Hand anlegen, um ihn mit einem
Knock Out zu Boden zu schicken. Ich befreite meine fidelnde Begleiterin, die ebenfalls einen Raum weiter gut verpackt verstaut wurde, und ihr Dank sollte mir Lohn genug für die Strapazen sein. Sie meinte, wir müssten den gekaperten Zug aufhalten, bevor wir die Grenze von Ungarn erreichen. Nun, das war ihr verständlicher Standpunkt, doch auf meinem Billett stand immer noch Konstantinopel als Zielort. Zumindest, wenn ich eines besessen gehabt hätte. Was allerdings die übrigen Passagieren anbelangte... so stellte ich bei einer Visite der beiden Schlafwagen fest, dass diese menschenleer waren. Auch von den beiden Schaffnern war keine Spur zu sehen und da ich schlecht anhand der Passagierliste entscheiden konnte, musste ich etwas anderes tun und daher versuchte ich, mir über das Dach einen besseren Überblick zu verschaffen.
Weit sollte ich nicht allerdings nicht kommen, denn ein weiterer Serbe hatte dieselbe Idee - nur diesmal mit einem Brecheisen! In einem Drahtseilakt gelang es mir irgendwie, dem Burschen diese Stange zu entreißen, wobei dieser allerdings vom Zug stürzte. Doch es blieb keine Zeit, sich damit zu belasten, denn hinter mir hörte ich ein verdächtiges Geräusch. Als ich mich umblickte, stand auch schon seine Freundin vor mir und hielt bedrohlich einen Säbel in der Hand! Wir duellierten uns wie die Piraten, bis sie sich plötzlich zu Boden warf. Kurz verwirrt bemerkte ich gerade noch rechtzeitig den Tunnel, auf den wir zusteuerten, sprang ebenfalls in Deckung, rutschte jedoch ab und konnte mich eben noch so am Rande des Daches festhalten! Als wir den Tunnel passiert hatten, stand die Serbin wieder oben auf, blickte auf mich hinab und trat solange auf meinen Händen herum, bis ich schließlich genug von dieser serbischen Ausgabe einer Suffragette hatte und sie kurzerhand mit einem beherzten Kunstgriff einfach vom Zug warf! Besonders wohl fühlte ich mich zwar nicht dabei, aber alles hat irgendwo auch seine Grenzen; auch Serbien!
Der Weg zum Führerhaus der Lok war nun endlich frei. Bei einem vorsichtigen Blick vom Kohlewagen aus sah ich, wie ein weiterer Serbe den Lokführer beim Kohle schaufeln antrieb. Um den würde ich mich wohl auch noch kümmern müssen! Doch zuvor hangelte ich mich in den Speisewagen hinunter, wo, wie ich feststellen durfte, die übrigen Passagiere samt der Bediensteten festgehalten worden waren. Als ich dem Schaffner klar machte, dass nur noch einer der Entführer übrig war, schickte dieser zur Beruhigung die versammelte Truppe in die beiden Schlafwagen zurück. Lediglich die junge Russin und ihr Großvater blieben am letzten verbliebenen Tisch zurück. Der Alte hatte wohl irgend so eine Vorahnung über den Ausgang dieser Fahrt und das arme junge Ding schien auch nicht gerade ganz bei sich zu sein. Nun, ich war zwar kein Psychologe, aber zumindest sollte mein ehemaliger Patient recht behalten: denn nur wenig später koppelte ich die Schlafwagons samt Anhang vom restlichen Zug ab. Dem dicken Deutschen, der mich dabei beobachtete, richtete ich noch ein gejodeltes
Servus aus und machte mich dann wieder auf den Weg zum Führerhaus. Dort traf ich dann die eigentliche Absenderin dieser Worte wieder, die hingegen ihrerseits dort den letzten verbliebenen Entführer traf - mit einer Kugel aus dem Lauf ihrer Pistole!
Von nun an wurde es wirklich brenzlig, denn als ich mich nicht damit abfinden wollte, den Zug zu stoppen, richtete Frau Kapellmeister anschließend sogar ihr
Instrument auf mich. Unsere jüngsten
diplomatischen Beziehungen standen ernsthaft auf der Probe! Doch ich legte es drauf an... und hatte mich nicht in ihr getäuscht: eine gefühlte Ewigkeit später tauschte sie sogar die Pistole gegen die Kohleschaufel aus, als der Lokführer mit seiner Kraft völlig am Ende zusammenbrach, und wir durchbrachen gemeinsam die Grenze in ein neues Land! Leider handelte es sich dabei um das Heimatland unserer Entführer und so heftete sich wenig später ein Armee-Zug an unsere Fersen, wie uns der Inspektor vom Yard aufklärte, der sich inzwischen irgendwie auch wieder zu uns gesellt hatte. Doch damit war es nicht genug! Denn irgendein windiger Serbe lenkte unseren Zug mit einer Weiche auf ein altes Gleis und wir steuerten direkt auf eine Brücke zu, die ihre besten Zeiten bereits hinter sich hatte. Wir mussten es wohl darauf anlegen, wenn wir unsere Verfolger abschütteln wollten, gaben Vollgas, drückten die Daumen und... die Brücke brach in sich zusammen!
Zum Glück stürzte dieses Bauwerk erst ein, nachdem wir es überquert hatten, und so fand die Verfolgungsjagd jäh ein abruptes Ende. Während der Inspektor und der Lokführer diesen Sieg noch beim Kohle schaufeln feiern wollten, zog ich mich in das einzige verbliebene Abteil des Zuges zurück, wo mich Fräulein k.u.k. im Dienste ihrer Majestät bei einer Raucherpause empfing. Wir waren der Ansicht, dass wir nochmal ein wenig unsere
interkontinentalen Beziehungen aufarbeiten sollten... Als sich nach einem Tag und einer langen Nacht zumindest die ersten befriedigenden Ergebnisse abzeichneten, liefen wir jedoch bereits langsam in Konstantinopel ein. Eine Stunde blieb uns noch und so vertagten wir weitere Gespräche auf ein kommendes Gipfeltreffen in Jerusalem. Da das Abteil zudem ziemlich verraucht gewesen sein dürfte, ging jeder für sich noch einmal frische Luft schnappen. Und wenn Sie jetzt bereits das Ende meines Berichtes wähnen sollten, werte Leser, dann irren Sie sich gewaltig: denn wir hatten unerwarteten Besuch bekommen!
Seine Exzellenz aus Nahost, nebst Gefolgschaft, hatten es sich still und heimlich im Speisewagen gemütlich gemacht. Wie immer sie das auch geschafft hatten, wo sie doch in Wien von Bord gegangen waren! Er war immer noch hinter diesem Schmuckstück her. Richtig, werte Leser, dieses goldene Ei, welches ich vor einer gefühlten Ewigkeit im Hundezwinger des Gepäckwagens versteckt hatte! Und unser osmanischer Freund meinte es offenbar sehr ernst, denn er hatte die Hundehalterin als Geisel genommen und verwendete sie nun als Druckmittel. Mir blieb keine andere Wahl: ich eilte zum Gepäckwagen, holte das von ihm so heiß ersehnte Ding und war erleichtert, dass es noch dort war. Ebenso erging es mir, als ich zurückkehrte, denn seine Exzellenz verlangte von mir - mit einer gezogenen Waffe an der Schläfe - das Ei zu öffnen. Gut, dass ich damit schon einmal herumgespielt hatte! So gelang es mir schließlich erneut, das Ei schlüpfen und in einen Vogel verwandeln zu lassen. Die weitere Rolle sollte nun unserer Violine spielenden Dame zufallen, um ihn durch ihr Spiel zum Singen zu bringen, und tatsächlich reagierte dieses mechanische Federvieh auch darauf und begann einer Spieluhr gleich zu singen.
Die Dämmerung brach allmählich herein und seine Exzellenz war offensichtlich zufrieden mit der Vorführung, denn er verlangte von mir, dass ich den Vogel wieder in sein Ei zurück beorderte und ihm jenes überreichte. Ich hingegen war irgendwie mit der Gesamtsituation nicht ganz so zufrieden wie er und wollte das auch gerne zum Ausdruck bringen. Also zückte ich meine Trillerpfeife und demonstrierte ihm meine Variation des Konzertes. Was ich damit anrichtete, konnte ich ja nicht ahnen! Und auch Sie, verehrte Leser, werden mir wahrscheinlich kein Wort glauben, doch der Vogel erwachte wirklich zum Leben! Nur sah er jetzt viel bedrohlicher aus und attackierte seine Exzellenz und seine Dienerin, indem er beiden auf gar schreckliche Weise die Augen und regelrecht das Gesicht zerfetzte. Trotz dieses grausamen Anblicks ergriff ich geistesgegenwärtig die Gelegenheit sowie die Hand, die eben noch die Violine gespielt hatte, und wir stürzten uns waghalsig aus dem Fenster des Zuges! Als wir wieder auf die Beine kamen, sahen wir gerade noch die Silhouette des Vogels nach seinem vollendeten Werk davonfliegen. Unser
Feuriger Elias hingegen rollte unbeirrt in den Bahnhof ein, bis er plötzlich mit einem Ohren betäubenden Knall in die Luft flog!
Oh, mein Gott! Da waren immer noch Menschen an Bord! Entsetzt verharrten wir noch einen kurzen Moment auf dem Gleis, bis wir schließlich, und während ich mich immer noch fragte, wie das geschehen konnte, die Gleise entlang zu den Bahnsteigen hinüber gingen. Überall liefen dort Menschen aufgebracht umher, doch war dafür nicht etwa die Explosion verantwortlich. Nein, denn wie ich von einem vorbeilaufenden Zeitungsjungen erfuhr, hatte sich soeben herumgesprochen, dass der Krieg nun endgültig ausgebrochen war! Nun, sie haben es ja sicher selbst mitbekommen... Meine Begleiterin und ich brauchten eine Weile, um die ganzen Ereignisse zu verarbeiten. Sehr zu ihrer Freude hatte es zumindest auch ihr Hund noch lebend aus dem Zug geschafft, doch ich war dennoch froh, Europa in Kürze wie geplant den Rücken zu kehren. Auch wenn das bedeuten würde, diese bezaubernde Frau ebenfalls zurücklassen zu müssen. Ob sie mir später nach Jerusalem folgen würde, damit wir unser Gipfeltreffen einhalten können, ließ sie zwar offen, doch dafür übergab sie mir ihren tierischen Begleiter in meine Obhut. Ein kleiner Hoffnungsschimmer? Nun, ich weiß nicht wie Sie das sehen, aber ich glaube fest daran, dass wir uns wiedersehen werden!
So, jetzt wird es aber Zeit, meine lieben Leser, mich endgültig bei Ihnen zu verabschieden! Mein neuer, vierbeiniger Freund hier erinnert mich gerade vehement daran, dass in Kürze mein Schiff nach Jerusalem ablegt, und ich sollte mich beeilen, wenn ich diesmal
vor der Abfahrt zusteigen möchte... Daher drücke ich nun ein letztes mal mein Siegel unter diese Zeilen, bringe den Bericht am Fuß der Taube neben mir an und schicke sie auf Reisen: "So flieg, mein kleiner Vogel, und trage deine Botschaft in die Welt hinaus!"
Herzlichst,
Ihr Robert Christie
-- Dies ist leider das Ende dieses spektakulären Reiseberichtes. Sie möchten mehr lesen? Vielleicht von der Überfahrt nach Jerusalem? Lieber weitere, spannende Geschichten unter der Sonne des Nahen Ostens hören? Oder vielleicht sogar mit einem Nildampfer von den Pyramiden über Karnak bis zum Tempel von Abu Simbel auf dem längsten Fluss der Welt reisen? Schreiben Sie uns und wir leiten Ihren Wunsch gerne an den Autoren weiter!