Familienbande
Tove und Pappa Henrik hatten zuletzt auf denkbar unterschiedlichen Wegen zu den Toren Utangards, dem Schattenreich Rörkas, gefunden. Und doch hatten sie sich um eine Dimension verpasst: Sie waren füreinander unsichtbar, spürten aber eine spirituelle Präsenz an ihrer Seite, ein irrationales Gefühl von Vertrautheit, dessen Ursprung sie noch nicht zu ergründen vermochten.
Fortan konnten wir zwischen Toves und Pappas Sicht auf die Dinge wechseln. Von Vorteil war hierbei, dass sich die Wahrnehmung beider auf der materiellen Ebene überschnitt: Funde konnten untereinander geteilt werden. So fiel Henrik direkt zu Beginn Toves liebevoll geführtes Journal in die Hände, das ihn endgültig davon überzeugte, sich heiß auf der Spur seiner Kinder zu befinden.
Vater und Tochter gaben sogleich einen Vorgeschmack darauf, dass sie durchaus dazu fähig sind, ein funktionierendes Team zu bilden. Obgleich ihre Handlungen zunächst ein wenig ins Blaue gerichtet waren, gelang es ihnen mit etwas Mühe, die ersten beiden Burgtore gemeinsam zu öffnen. Die dafür nötige familiäre Arbeitsteilung aus Krafteinsatz (Henrik) und (Kletterkunst) sollte zur Blaupause einiger späterer Errungenschaften werden.
Vorhof der Hölle
Die beiden Jakobsens befanden sich nun im Haupthof der stattlichen Burganlage. Hier wurde überdeutlich, wie stark sich ihr sensorischer Zugang zu der Umgebung unterschied. Während Henrik einen verlassenen, hauchzart begrünten Ort wahrnahm, dem in Form der überall präsenten leeren Käfige allenfalls ein ferner Schrecken innewohnte, stand Tove dem Grauen unmittelbar gegenüber.
Für sie war die unwirtliche Burg ganz und gar in Eis erstarrt, so als ginge der endlose Winter, der sich über den Wald gesenkt hatte, ursächlich von diesem Ort aus. Noch schlimmer aber war, dass die herabhängenden Käfige nicht unbewohnt waren! Die darin gefangenen unheilvollen Geschöpfe - halb Mensch, halb Vogel – scheinen sich selbst überlassen worden zu sein, ausgedient zu haben. Sie warnten Tove eindringlich davor, sich dem Zentrum dieses Orts weiter anzunähern. Sie solle sich dem hiesigen Fluch, wenn überhaupt noch möglich, entziehen. Sie entdeckte hier auch die vertrauten Fußspuren Rökis, dessen vermutete Anwesenheit sie weiter ängstigte.
Mitgefangen
Die Bewegungsfreiheit Toves und Henriks war zunächst vergleichsweise eingeschränkt: Das gegenüberliegende Tor, das zu Rörkas Turm führte, war fest verschlossen. Auch andere Pforten verweigerten sich ihnen vorerst. Immerhin fand Tove im Torbereich ein paar ölige Samen, die sich später noch als nützlich erweisen könnten.
Vom Innenhof aus konnte Tove ein Turmzimmer erreichen, das eine kleine, lückenhafte Bibliothek beheimatete. Auch dort fand sie eines dieser bedauerlichen Geschöpfe vor, das bereits seinen letzten Atemzug getan hatte. Den Speer, mit dem das Wesen ausgerüstet war, nahm sie an sich.
Mit diesem praktischen Werkzeug gelang es Henrik, Tove Zugang zum Brunnen auf dem Haupthof zu verschaffen. Unten angekommen, fand sie einen achteckigen Stein, der mit einem Sonnensymbol verziert war. Allerdings war ihr der Rückweg durch den Brunnenschacht verwehrt, weshalb sie einem alternativen Ausgang folgte. Dieser führte in ein unterirdisches Verlies, in dem einst weitere der vogelähnlichen Kreaturen bis zu ihrem Tod gefangengehalten worden waren. Bei einem dieser Wesen konnte sie den Kerkerschlüssel finden, mithilfe dessen sich Henrik von außen ins Spiel bringen konnte. So sicherten wir uns einen Hammer und ein praktisches Mörser-Stößel-Set.
Einen klugen Einfall später hatten wir Zugang zu einem weiteren weitläufigen Areal der Burganlage. Zum einen gab es dort eine Art Sonnenuhr, die vier scheibenförmige Aussparungen aufwies. Eine Inschrift auf der krönenden Wolfsfigur gab in poetisch-verrätselter Weise den Tagesablauf einer Wölfin wieder. Der Sonnenstein aus dem Brunnen schien hier zwar zu passen, allerdings war unsere Sammlung diesbezüglich noch nicht vollständig, weshalb wir uns fürs Erste anderen Dingen zuwandten.
In der näheren Umgebung fanden wir unter anderem ein liebevoll eingeschlagenes Buch, eine quadratische Steinplatte mit einem Schneeflockensymbol, die wir durch einen familieninternen Balanceakt ergattern konnten. Auch ein weiterer Sonnenstein fand Eingang in unser Repertoire.
Käfig, wechsel dich!
Weiter östlich wurde Henrik der Aufstieg durch eine hinaufgezogene Brücke verwehrt. Tove eilte herbei, ihr Weg wurde aber jäh gestoppt: Eine der Schreckensfiguren war ihrem Käfig entronnen! Bei jedem Versuch Toves, sie zu passieren, wurde sie lautstark zurückgestoßen. Wir fanden allerdings heraus, dass Henrik die Käfigtür für eine Weile lang offen halten kann, während Tove einen passenden Köder auslegt.
Eine geeignete Lockfrucht war schnell erklettert, sodass es dem Vater-Tochter-Gespann gelang, das Wesen in seine Schranken zu weisen. Von nun an waren sie sich auch sicher, von dem/der jeweils anderen begleitet zu werden, auch ohne einander sehen zu können. Ihr blindes Vertrauen hatte sich also ausgezahlt!
Auf den Zinnen angekommen, entdeckte Tove weitere Kreaturen auf Freigang, die ihr eine genauere Erkundung des luftigen Bereichs verunmöglichten. Glücklicherweise wuchsen auch hier Exemplare der anscheinend so unwiderstehlichen Frucht, sodass schnell ein Plan gefasst war: Henrik machte sich mit dem mechanischen Zugsystem vertraut, während Tove die Köder besorgte und platzierte.
Die erschwerende Besonderheit, dass die Wesen nur dann auf diese List ansprangen, wenn sie keinen besetzten Käfig im Sichtfeld hatten, wurde durch das geschickte Versetzen von Zahnrädern und mit etwas Übung rasch gelöst.
Als Belohnung erhielten wir Zugang zum zweiten Turmzimmer, welches auf die entgegengesetzte Seite der Torsteuerung für Rörkas riesigen Turm führte. Allerdings fehlte uns hier noch der passende „Schlüsselreiz“. Im Zimmer selbst konnten wir unserer Sammlung zwei weitere Steine hinzufügen, ein rundliches Sonnensymbol und eine rechteckige Platte, auf der ein Blatt prangte. Zudem hatten wir uns eine praktische Abkürzungsmöglichkeit in den Haupthof erschlossen Bevor wir uns einem weiteren Bereich der Burganlage widmeten, sicherte sich Henrik unterhalb der Zinnen noch einen nützlichen Spaten.
Schleusenwart Jakobsen
Im Haupthof richteten wir unsere Aufmerksamkeit aus das nördliche Seitentor, das zwar fest verschlossen war, wohl aber untergraben werden konnte. Auf diese Weise gelang es Tove, auf die andere Seite zu gelangen – und den Pappa per Hebelwirkung nachzuholen.
Wir fanden uns an einer Schleusenanlage wieder, mit deren Funktionsweise sich Henrik sogleich vertraut machte. Kaum war das Getriebe ausreichend gestreichelt und geschmiert, sank der Wasserspiegel so weit, dass Tove Zugang zu einem vormals versteckten düsteren Gewölbe erhielt.
Bis auf eine Axt, die Henrik eine Ebene höher dabei half, räumlich-versetzt mitzuziehen, war hier noch nicht viel zu erkennen. Das wäre auch zu verschmerzen gewesen, hätte der Grobmotoriker Henrik einem vorgefundenen Schlüssel gegenüber etwas mehr Fingerspitzengefühl bewiesen.
Die stammbaumgerechte vertikale Aufteilung der Jakobsens hatte allerdings einen wesentlichen Vorteil: Henrik konnte durch gezieltes Anheben der Auslegeware die darunterliegenden Punkte erhellen. Schnell hatte Tove alle Materialien für eine improvisierte Angel beisammen und konnte den sicher verlorengeglaubten Schlüssel ins Inventar legen.
Henrik betrat daraufhin einen Flur, der zwei verschlossene massive Türen beherbergte, die einem speziellen Mechanismus zu folgen schienen. Er „fackelte“ hier nicht allzu lange. Er fand auch den vierten und letzten Sonnenstein, der dem Sonnenaufgang gewidmet war.
Derweil um einen Ausgang, einen kostbaren Stein und einen Schmöker reichte, holte Tove auf.
Walhalla
Man traf sich in einem Saal weiter, der von einer ausladenden Speisetafel und einem Kamin dominiert wurde. Die Aura aller vier Wächter war hier auf wehmütige Weise greifbar. Die Feuerstelle wurde durch zwei Statuenpaare flankiert, die sich für die unsere angesammelten quadratischen Steinplatten empfänglich zeigten. Doch wie sollten wir sie anordnen?
Einen wichtigen Hinweis lieferte der Kamin selbst, in dessen Mitte eine Inschrift prangte, die von einem gestörten Ablauf der Jahreszeiten sprach. Das neue Jahr hätte zwar, wie gehabt, mit dem Lenz begonnen, danach hätten sich aber größere Zeitsprünge ereignet. Beginnend mit dem Frühling vollzogen wir diese Ablauf nach – Frühling-Winter-Herbst-Sommer -, wobei jede Jahreszeit durch ein Natursymbol auf unseren quadratischen Steinplatten repräsentiert wurde.
Kaum hatten wir die Sonne an ihren vorgesehen Platz gesetzt, fuhren die Statuen in die Höhe. Zudem konnten wir nun, weiter vorne im Raum, die mit Tiermotiven versehenes Bodenplatten kurzzeitig aufleuchten lassen. Es war auch ein weiterer Hinweis erschienen, der uns daran erinnerte dass jeder der vier Wächter einer Jahreszeit zugeordnet sei. Mit diesem Wissen und erneuter Arbeitsteilung zwischen der filigranen Tove und ihrem eher gravitätischen Pappa gelang der Abgleich denkbar schnell. So sicher, wie der Rabe den Winter weichen lässt und der Hirsch den Sommer, so folgerichtig öffnete sich auch ein geheimer Zugang hinter dem Kamin.
Tove fand hier das dritte und letzte der Bücher, die dem Regal im Turmzimmer fehlten. Die eingefassten Motive unserer Bücher wirkten wie ikonografische Repräsentationen der in der Bibliothek bereits vorhandenen Werke, die offenbar nach ihrem Bezug zu den Naturelementen einsortiert worden waren. So gab es hier allerhand Wissenswertes zu den „Zugrouten der Drachen“, den „Bestattungsritualen von Trollen“ oder gar zu „Flussschlangeneintöpfen“ zu lesen. Kaum hatten wir die Sammlung vervollständigt, gab das Regal ein Geheimfach preis, dem wir einen erhabenen Ring entnehmen konnten, der mit einem Teil der Torsteuerung für Rörkas privaten Turm kompatibel war. Wir konnten vor Ort auch den letzten Sonnenstein an uns nehmen.
Der Wolf der Wallstraße
Da wir nun alle benötigten Steine besaßen, um die Sonnenuhr zu bestücken, kehrten wir in den Hof am Ostwall zurück. Korrespondierend mit der Inschrift legten wir den Tagesablauf der Wölfin gegen den Uhrzeigersinn fest, von der Morgendämmerung bis zur sternenklaren Nacht. Daraufhin wurden Tove und Henrik zu einem kleinen Paartanz eingeladen: Die Wölfin stieß bei ihrer Umrundung immer wieder auf Hindernisse, die nur durch schnelles „Schalten“ beider Jakobsens abwechselnd aus dem Weg geräumt werden konnten. Sobald auch das letzte Hindernis passiert war, lud eine ausgefahrene geheime Wendeltreppe in die Tiefe ein.
Tove schlüpfte hindurch und erreichte nach einer Weile das östliche Ende des unterirdischen Gefängnistrakts, wo sie auf eine weitere tragisch verendete Kreatur stieß. Bei dieser fand sie das Gegenstück des bereits kurz zuvor in der Turmkammer gefundenen Schlüsselrings. Auf dem Rückweg zum Sonnenhof fiel auf, dass selbst hier, in den verborgensten Gängen Utangards, noch Zeugnisse aller vier Wächter präsent waren.
Der unaufhaltsame Aufstieg
Es war soweit. Tove und ihr Vater standen einander an der Kettenwinde gegenüber und konnten, passend beringt, auch das vermeintlich letzte Tor, das sie von der Rettung des geliebten Lars noch trennte, gemeinsam lüften.
Der folgende Aufstieg gen Turm war zwar beschwerlich, für Tove gar ein Spießrutenlauf reinster Negativität, am Ende ihres vorerst letzten gemeinsamen Wegstücks aber waren Vater und Tochter endgültig miteinander versöhnt: Henrik hatte nach langer Zeit wieder zu Tove gefunden. Mit dem Schwur auf den Lippen, fortan ein besserer Pappa sein zu wollen, verhalf er ihr, die entscheidenden letzten Meter zu überwinden. Denn dieses Stück musste sie ganz allein bewältigen...
Exkurs: Die Expedition
In Person Henriks stießen wir in Utangard immer wieder auf Hinterlassenschaften einer offenbar professionell geplanten früheren Expedition, die unser eigenes Wirken auf eine gewisse Weise zu kommentieren schienen. Während wir von den zurückgelassenen Ausrüstungsgegenständen und Artefakten reichlich Gebrauch machten, wirkten die vorgefundenen Notizen teils reichlich enigmatisch.
Offenbar hatte der namenlose Expeditionsleiter, der für die Notizen verantwortlich zeichnete, eine Truppe zusammengestellt, die das Gelände kartieren und nach verborgenen Schätzen durchforsten sollten.
Die Tagebucheinträge verdüsterten sich zunehmend: Angst hatte sich in die Gruppe eingeschlichen, Berichte über unheimliche nächtliche Geräusche mehrten sich. Dann starben die ersten Teilnehmer, andere ergriffen die Flucht. Eine Notiz, die dem Tod eines Hansi gewidmet war, weckte in Henrik Erinnerungen! Er meinte, er könne sich an eine entsprechende Expedition dunkel erinnern – man habe ihm als Kind davon berichtet.
Wir erfuhren nach und nach auch, dass der Expeditionsleiter seinen Mitstreitern gegenüber etwas Essenzielles verbarg. Offenbar hatte er sie bezüglich seiner wahren Beweggründe, diesen Ort zu erforschen, irregeführt: Er habe all diese Opfer in Kauf genommen, um den Verbleib seines Sohnes Elias aufzuklären, der offenbar ebenfalls von Rörka entführt worden war.
Seine „Stimme“ begleitete Henrik hinauf bis zum Fuße von Rörkas Turm, wo wir die letzte Botschaft fanden: Er war gescheitetert. Er hatte alles und jeden geopfert, den letzten Schritt allerdings konnte er nicht mehr tun, da er allein war. Elias war verloren.