Der Orient-Express im Wandel der Zeit
(Reisebericht)
Straßburg, 25. Juli 1914
Altmodisch? Langweilig? Nur etwas für reiche Snobs? Mitnichten, werte Leser, mitnichten! Denn was ich seit gestern bei meiner Abfahrt auf diesem stolzen Flaggschiff der CIWL erlebt habe, hätte selbst Bismarck freiwillig von Bord gehen lassen. Bereits das Zusteigen bei geschätzten, atemberaubenden 48 km/h war ein Kapitel für sich. Rasant ging es weiter durch das erste Schlafabteil, bis ich dank des Schaffners das Zimmer meines Freundes, den ich hier aufzusuchen gedachte, endlich gefunden hatte. Doch hinter der Tür erwartete mich bereits die nächste dramatische Szene: mein Freund lag tot auf dem Boden! Jetzt war schnelles Handeln angesagt, wollte ich nicht als sein Mörder hingestellt werden. Da auch bereits der Schaffner stetig an die Tür klopfte, um mich zu einem Besuch im Speisewagen zu nötigen, warf ich den leblosen Körper kurz angebunden einfach aus dem Fenster. Oh, mein Gott! Und hoffentlich hat mich dabei niemand gesehen!
Mein Puls erholte sich langsam wieder und ich ignorierte sogar weiterhin gekonnt den draußen auf dem Flur herumnörgelnden Schaffner, um mich im Zimmer ein wenig nach weiteren Hinweisen umzusehen. Sonderbares Gepäck hatte mein Freund bei sich, das eher wie ein Schmuckkästchen als wie ein Koffer aussah. Doch bevor ich mir weitere Gedanken dazu machen konnte, betrat plötzlich ein dreister Mitreisender das Zimmer. Mir stockte der Atem ob des gut sichtbaren Blutfleckes auf dem Boden, doch er schien ihn nicht zu sehen. Puh, Glück gehabt! Jetzt schnell die Gunst der Stunde nutzen, eine empörte Miene aufsetzen und den Gecken wieder hinaus beordern. Und bevor hier noch weitere Störenfriede aufkreuzen, verließ ich vorsichtshalber ebenfalls das Zimmer, um nun doch einmal den Speisewagen aufsuchen zu gehen. Vielleicht sollte ich, wie die anderen Gäste, den Schaffner darum bitten,
"mein" Zimmer abzuschließen?
Als ich den Salon durchquerte, fiel mir eine herrenlose Zeitung ins Auge, die ich jedoch nur kurz überflog. Schließlich hatte ich es eilig und wen interessiert schon in diesen Zeiten das aktuelle Tagesgeschehen! Im Speisewagen angekommen machte ich dann endlich die Bekanntschaft einer reizenden, auffällig gekleideten Dame, die alleine dort dinierte. Als Gentleman hatte ich ihr natürlich sogleich meine Gesellschaft angeboten, die sie jedoch aus schlug. Daher versuchte ich es noch mit dem alten
"Sie-haben-da-was-fallen-lassen-Trick" und reichte ihr den Schal, den ich im Zimmer meines Freundes gefunden hatte, doch offenbar sind die Initialen darauf die einer anderen. Schade, also nehme ich vorerst alleine an dem Tisch Platz, den mir der aufmerksame Schaffner zugewiesen hatte, und lauschte ein wenig den Gesprächen der anderen Gäste.
Als sich der Speisewagen wieder geleert hatte, verließ ich auch wieder einstweilen diesen Ort und irrte noch eine Weile durch den fahrenden Zug, der irgendwo zwischendurch kurz Halt gemacht hatte. Leider verlässt mich hier ein wenig die Erinnerung und ich kann mich nur noch daran entsinnen, wie ich wieder im Speisewagen saß. Vermutlich hat mich dort das Gespräch der beiden hübschen Französinnen abgelenkt, dem ich dank meiner Sprachkenntnisse beiwohnen durfte, und die offensichtlich Gefallen an mir gefunden hatten. Sieht ganz so aus, als bliebe die Fahrt weiterhin spannend! Vielleicht sollte ich doch noch
"mein" Zimmer für den Fall weiterer Empfänge von Gästen säubern und so trabte ich kurzentschlossen zurück Richtung Schlafwagen.
Zwei Polizeibeamte! Sie suchten nach jemanden, der eine Leiche aus dem Zug geworfen hatte und der Schaffner, der Hund, hatte bereits das Abteil hinter mir verschlossen. Verdammt! Was sollte ich jetzt machen? Schweißgebadet klopfte ich im Eiltempo an die verbliebenen Türen zwischen den Polizisten und mir und betrat das erst beste Zimmer, aus dem keine Antwort kam. Dahinter schlief in aller Seelenruhe ein Gast, der mich nicht weiter bemerkte. Glück gehabt! Auf leisen Sohlen versteckte ich mich im zugehörigen Badezimmer und verharrte dort, bis die Gendarmerie auch dieses Zimmer passiert hatte. Anschließend schlich ich mich völlig erschöpft wieder hinaus und legte mich erst einmal eine Weile in
"meinem" Zimmer hin. Als ich schließlich wieder aus meinem verwirrenden Traum über singende Eier erwachte, lief der Zug gerade in Straßburg ein...
-- Lesen Sie auch in der morgigen Ausgabe einen weiteren Teil des spannenden Berichts von Robert Christie mit dem Titel: Mord im Orient-Express!