Harveys neue Augen
Verfasst: 27.08.2011, 23:18
Ich habe heute Abend das von mir lang ersehnte Harveys neue Augen (HNA) zuende gespielt. Meine Eindrücke möchte ich hier zusammenfassen. Dabei möchte ich darauf aufmerksam machen, dass ich das Review für diejenigen schreibe, die das Spiel auch bereits gespielt haben:
DIESER TEST BEINHALTET SPOILER UND SOLLTE ERST NACH GENUSS DES SPIELS GELESEN WERDEN!
Die Fußstapfen, in die HNA zu treten hat, sind groß. Die Fachpresse, viele Fans der guten alten Adventure-Zeiten anfang der 90er jahre und nicht zuletzt ich selbst waren einigermaßen begeistert von Edna bricht aus (EBA), dem Vorgängerspiel. Meine Erwartung war entsprechen hoch, auch weil wieder Jan Müller-Michaelis persönlich Hand angelegt hat.
Geschichte
Die vermeintliche Stärke von Daedalic ist die Fähigkeit, mit den Spielen ergreifende, feinsinnige, interessante oder einfach schöne Geschichten zu erzählen. Das ist sicher auch mit ein Grund dafür, dass ich den Laden so mag. Auch bei HNA ist die Geschichte sicherlich bemerkenswert.
Die brave Klosterschülerin Lilli wird als braves Mädchen vorgestellt, und außerdem hat sie diese rosa Schleife im Haar - nur brave Mädchen haben das, wie jedermann weiss. Doch schon im ersten Akt zeigt sich, dass dieses Mädchen ganz offenbar ein massives Problem hat. Ihr weg durch die Schule ist gepflastert mit Leichen: Unglückliche Unfälle? Mit dieser Fragestellung wird der Spieler auf recht unvermittelte Weise in die Geschichte geleitet. Ist die brave Lilli unglaublich naiv, oder steckt mehr dahinter, ist sie unsagbar böse? Was ist mit diesem kranken Mädchen nur los?
Leider, und das ist nun wirklich schade, wird dieses Motiv des ersten Akts dann plötzlich aufgegeben. Lilli wird von Dr. Marcel hypnotisiert und so ihrer Handlungsfreiheit beraubt. Anstatt Lillis Charakter weiter zu entwickeln und ihre Grausamkeit begreifbar zu machen wird durch eine Reihe von Minispielen ihre Freiheit Stück für Stück wieder hergestellt. Das Kozept dabei scheint ambitioniert, die Umsetzung ausgefeilt, die Geschichte wird damit allerdings kaum vorangetrieben. Die lässt sich stattdessen so erklären: Aus dem Kloster flieht Lilli in die nahegelegene Irrenanstalt, um ihre Freundin Edna zu retten, wo sie dann in eine schwierige Situation gerät - und entweder ihre Schuldlosigkeit oder ihr Selbstbild opfern muss. Man erhält keine Antworten auf die zu Beginn aufkommenden Fragen - diese werden nicht einmal bearbeitet.
Das Dilemma, in das man gegen Ende als Spieler gebracht wird, erinnert stark an das Ende von EBA. Mit dem Unterschied, dass die Mechanik dieser Situation - nämlich die Ausweglosigkeit der Situation aus der Perspektive der Protagonistin für den Spieler erfahrbar zu machen - bei EBA viel besser funktioniert. Das liegt für mich daran, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich mit Lilli als offensichtlich gestörtem Geist zu identifiezieren - ganz anders als bei Edna, die einen mit Harvey und ihrer ganzen Liebenswürdigkeit viel stärker durch ihre Augen hat blicken lassen.
Die Welt, durch die Lilli zieht erreicht mit ihren Charaktären kaum Tiefe - auch nicht bei den wichtigsten handelnden Personen wie Dr. Marcel, oder gar Lilli selbst. Dafür sind manche Nebencharaktäre herrlich schräg. Ich hatte viel Spaß mit den wie immer bei Daedalic tollen Dialogen.
Technik
Die Grafik hat einen konsistenten, sehr Eigenständigen Stil, der den von EBA aufnimmt und auf ein etwas professionelleres Niveau hebt. Mir hat es sehr gefallen, aber mir hat auch EBA schon sehr gefallen. Qualitativ hat sich hier eigenlich nichts getan - Effektverwöhnte Realismus-Freaks können wohl weder mit EBA noch mit HNA was anfangen.
Die Vertonung fand ich besonders gelungen. Besonders der Erzähler, die Oberin, und natürlich Droggelbecher (kein Witz, ich dessen Synchronisierung echt genial).
Gameplay
Daedalics spiele waren bislang auch darin auffällig, dass wegen knackiger Rätsel die alten Hasen der Szene ganz offenbar die Zielgruppe waren. Diesesmal ist alles etwas leichter. Und zwar weil.
Auch wenn es im ersten Akt viele gleichzeitig begehbare Screens gibt - es hat mir sehr viel Spaß gemacht, die alle zu durchstöbern - gibt es wirklich extrem wenige Hotspots im Spiel. Die, die es gibt, haben eine Funktion im Spiel, es gibt also keine Ablenkung. Das hatte bei mir zur Folge, dass ich manchmal Rätsel "ausversehen" gelöst habe, da einfach nicht besonders viele Kombinationsmöglichkeiten da waren.
Abgesehen von dieser wirklichen Schwäche waren die Rätsel im Spiel besonders logisch, gefordert war ein gesunder Kompromiss aus Um-die-Ecke- und Geradeaus-Denken. Frustration kam so bei mir nie auf, ich musste allerdings auch nie wirklich lange überlegen. Dennoch, diese befriedigenden Momente, bei denen man einen Augenblick innehält, und einem dann die Lösung auf einmal völlig klar wird - die gab es durchaus.
Bei der Integration von Minispielen hat Daedalic mal was neues ausprobiert. Diese kleinen Aufgaben waren in geradezu aufdringlicher Folge reine Logikaufgaben - wobei hier ganz ausdrücklich und nur formale Logik gemeint ist. Um ehrlich zu sein hat mich das etwas verwundert - und ich war froh, dass ich nicht kurz vorm Endboss noch ein Sudoku zu lösen hatte. Letztlich waren diese Rätsel aber ganz gut umgesetzt und auch ganz spaßig - auch wenn sich dieser Ansatz in meinen Augen mit dem bisherigen daedalicschen Fokus auf Storytelling beisst.
Für die Spielmechanik war auch noch die Möglichkeit, einzelne Verbote zu brechen, von gewisser Besondersheit. Die Idee ist gut, jedoch hätte man da meiner Meinung viel mehr draus machen können. So musste man die meisten "Talente" nur einmal - genau nach dessen Erlernen - einsetzen. Die etwas umständlich und auch künstlich wirkende Einschränkung, dass man immer nur eins dieser Talente aktiv haben kann, wurde nie rätseltechnisch verarbeitet. Und ich hatte auch irgendwie erwartet, dass man im großen Finale nochmal durch einen Parcour muss, wo man diese Talente eins nach dem anderen nochmal geschickt einsetzen muss. Das hätte den vorherigen Abenteuern zumindest was das Gamedesign anbelangt eine zusätzliche Bedeutung verliehen.
Fazit
Alles in allem bin ich enttäuscht, denn das Spiel hat mir nur sehr viel Spaß gemacht, es ist nur ein überdurchschnittliches Adventure. Und ich habe das Gefühl: Da war mehr drin!
DIESER TEST BEINHALTET SPOILER UND SOLLTE ERST NACH GENUSS DES SPIELS GELESEN WERDEN!
Die Fußstapfen, in die HNA zu treten hat, sind groß. Die Fachpresse, viele Fans der guten alten Adventure-Zeiten anfang der 90er jahre und nicht zuletzt ich selbst waren einigermaßen begeistert von Edna bricht aus (EBA), dem Vorgängerspiel. Meine Erwartung war entsprechen hoch, auch weil wieder Jan Müller-Michaelis persönlich Hand angelegt hat.
Geschichte
Die vermeintliche Stärke von Daedalic ist die Fähigkeit, mit den Spielen ergreifende, feinsinnige, interessante oder einfach schöne Geschichten zu erzählen. Das ist sicher auch mit ein Grund dafür, dass ich den Laden so mag. Auch bei HNA ist die Geschichte sicherlich bemerkenswert.
Die brave Klosterschülerin Lilli wird als braves Mädchen vorgestellt, und außerdem hat sie diese rosa Schleife im Haar - nur brave Mädchen haben das, wie jedermann weiss. Doch schon im ersten Akt zeigt sich, dass dieses Mädchen ganz offenbar ein massives Problem hat. Ihr weg durch die Schule ist gepflastert mit Leichen: Unglückliche Unfälle? Mit dieser Fragestellung wird der Spieler auf recht unvermittelte Weise in die Geschichte geleitet. Ist die brave Lilli unglaublich naiv, oder steckt mehr dahinter, ist sie unsagbar böse? Was ist mit diesem kranken Mädchen nur los?
Leider, und das ist nun wirklich schade, wird dieses Motiv des ersten Akts dann plötzlich aufgegeben. Lilli wird von Dr. Marcel hypnotisiert und so ihrer Handlungsfreiheit beraubt. Anstatt Lillis Charakter weiter zu entwickeln und ihre Grausamkeit begreifbar zu machen wird durch eine Reihe von Minispielen ihre Freiheit Stück für Stück wieder hergestellt. Das Kozept dabei scheint ambitioniert, die Umsetzung ausgefeilt, die Geschichte wird damit allerdings kaum vorangetrieben. Die lässt sich stattdessen so erklären: Aus dem Kloster flieht Lilli in die nahegelegene Irrenanstalt, um ihre Freundin Edna zu retten, wo sie dann in eine schwierige Situation gerät - und entweder ihre Schuldlosigkeit oder ihr Selbstbild opfern muss. Man erhält keine Antworten auf die zu Beginn aufkommenden Fragen - diese werden nicht einmal bearbeitet.
Das Dilemma, in das man gegen Ende als Spieler gebracht wird, erinnert stark an das Ende von EBA. Mit dem Unterschied, dass die Mechanik dieser Situation - nämlich die Ausweglosigkeit der Situation aus der Perspektive der Protagonistin für den Spieler erfahrbar zu machen - bei EBA viel besser funktioniert. Das liegt für mich daran, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich mit Lilli als offensichtlich gestörtem Geist zu identifiezieren - ganz anders als bei Edna, die einen mit Harvey und ihrer ganzen Liebenswürdigkeit viel stärker durch ihre Augen hat blicken lassen.
Die Welt, durch die Lilli zieht erreicht mit ihren Charaktären kaum Tiefe - auch nicht bei den wichtigsten handelnden Personen wie Dr. Marcel, oder gar Lilli selbst. Dafür sind manche Nebencharaktäre herrlich schräg. Ich hatte viel Spaß mit den wie immer bei Daedalic tollen Dialogen.
Technik
Die Grafik hat einen konsistenten, sehr Eigenständigen Stil, der den von EBA aufnimmt und auf ein etwas professionelleres Niveau hebt. Mir hat es sehr gefallen, aber mir hat auch EBA schon sehr gefallen. Qualitativ hat sich hier eigenlich nichts getan - Effektverwöhnte Realismus-Freaks können wohl weder mit EBA noch mit HNA was anfangen.
Die Vertonung fand ich besonders gelungen. Besonders der Erzähler, die Oberin, und natürlich Droggelbecher (kein Witz, ich dessen Synchronisierung echt genial).
Gameplay
Daedalics spiele waren bislang auch darin auffällig, dass wegen knackiger Rätsel die alten Hasen der Szene ganz offenbar die Zielgruppe waren. Diesesmal ist alles etwas leichter. Und zwar weil.
Auch wenn es im ersten Akt viele gleichzeitig begehbare Screens gibt - es hat mir sehr viel Spaß gemacht, die alle zu durchstöbern - gibt es wirklich extrem wenige Hotspots im Spiel. Die, die es gibt, haben eine Funktion im Spiel, es gibt also keine Ablenkung. Das hatte bei mir zur Folge, dass ich manchmal Rätsel "ausversehen" gelöst habe, da einfach nicht besonders viele Kombinationsmöglichkeiten da waren.
Abgesehen von dieser wirklichen Schwäche waren die Rätsel im Spiel besonders logisch, gefordert war ein gesunder Kompromiss aus Um-die-Ecke- und Geradeaus-Denken. Frustration kam so bei mir nie auf, ich musste allerdings auch nie wirklich lange überlegen. Dennoch, diese befriedigenden Momente, bei denen man einen Augenblick innehält, und einem dann die Lösung auf einmal völlig klar wird - die gab es durchaus.
Bei der Integration von Minispielen hat Daedalic mal was neues ausprobiert. Diese kleinen Aufgaben waren in geradezu aufdringlicher Folge reine Logikaufgaben - wobei hier ganz ausdrücklich und nur formale Logik gemeint ist. Um ehrlich zu sein hat mich das etwas verwundert - und ich war froh, dass ich nicht kurz vorm Endboss noch ein Sudoku zu lösen hatte. Letztlich waren diese Rätsel aber ganz gut umgesetzt und auch ganz spaßig - auch wenn sich dieser Ansatz in meinen Augen mit dem bisherigen daedalicschen Fokus auf Storytelling beisst.
Für die Spielmechanik war auch noch die Möglichkeit, einzelne Verbote zu brechen, von gewisser Besondersheit. Die Idee ist gut, jedoch hätte man da meiner Meinung viel mehr draus machen können. So musste man die meisten "Talente" nur einmal - genau nach dessen Erlernen - einsetzen. Die etwas umständlich und auch künstlich wirkende Einschränkung, dass man immer nur eins dieser Talente aktiv haben kann, wurde nie rätseltechnisch verarbeitet. Und ich hatte auch irgendwie erwartet, dass man im großen Finale nochmal durch einen Parcour muss, wo man diese Talente eins nach dem anderen nochmal geschickt einsetzen muss. Das hätte den vorherigen Abenteuern zumindest was das Gamedesign anbelangt eine zusätzliche Bedeutung verliehen.
Fazit
Alles in allem bin ich enttäuscht, denn das Spiel hat mir nur sehr viel Spaß gemacht, es ist nur ein überdurchschnittliches Adventure. Und ich habe das Gefühl: Da war mehr drin!