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Vorschau

von  
08.07.2011
Harveys neue Augen
Vor gut zwei Monaten waren wir für Euch bei Daedalic, um einen ersten Blick auf Harveys neue Augen zu werfen. In der Zwischenzeit war man in Hamburg fleißig und hat eine Vorschauversion fertiggestellt; sie umfasst die ersten anderthalb von drei geplanten Kapiteln, also etwa die Hälfte der gesamten Geschichte. Fans von Edna bricht aus, auf dem Harveys neue Augen basiert, fiebern dem Spiel sicher schon entgegen, doch wie wird es auf Spieler wirken, die Edna bisher noch nicht kennen? Um diese Frage zu beantworten, haben wir einen besonderen Weg gewählt, wir haben nämlich einen Redakteur an die Vorschauversion gesetzt, der Edna bricht aus bisher noch nicht gespielt hat – und sich dafür schämt.

Musikalische Einstimmung…

Edna-Autor Jan Müller-Michaelis greift gerne mal zum Mikro, das ist bekannt. Er hat es sich also nicht nehmen lassen, auch für Harveys neue Augen ein eigenes Stück in Liedermacher-Tradition zu komponieren. Welcher Text sich hinter dem Titel „Nadel und Faden“ verbirgt, mag sich jeder selbst ausmalen, das eigensinnige Lied stimmt jedenfalls sehr gut auf das kommende Spielerlebnis ein. Während des Spiels ist die Musik eher zurückhaltend und in manchen Räumen gar nicht vorhanden, stattdessen erzeugen umfangreiche Hintergrundgeräusche eine ansprechende Atmosphäre. Der sparsame Einsatz von Hintergrundmusik ermöglicht zudem, Musik effektvoll zur Betonung besonderer Ereignisse einzusetzen.
Anders als der Titel des Spiels vermuten lässt, taucht der blaue Stoffhase Harvey in der Geschichte zunächst gar nicht auf. Stattdessen beginnt das Spiel im Garten einer Klosterschule, von wo aus wir Schülerin Lilli durch den, laut Erzähler, vermutlich der schönsten Tag ihres Lebens begleiten. Das mag man zu Beginn gar nicht glauben, bekommt sie doch direkt einen ordentlichen Anschiss der ki-ki-kinderhassenden Oberin Ignatz. Da Lilli beim Laubharken einmal mehr ihre Unfähigkeit unter Beweis stellt, wird sie stattdessen zu weiterer Gartenarbeit verdonnert. Warum die Oberin, die offenkundig von Lillis Unfähigkeit überzeugt ist, ihr ständig neue Aufgaben zuschreibt, bleibt ein Rätsel.
Edna und Lilli beim Schabernack im Schulgarten

…einsilbige Lilli

Generell sind die meisten Bewohner der Klosterschule Lilli nicht wirklich gut gesonnen. Die einen halten sie für langweilig und angepasst, die anderen sehen in ihr das Böse und schreiben ihr die Schuld an den jüngsten Bestrafungen durch die Oberin zu, abgesehen davon wird sie aber am liebsten ignoriert. Die einzige Ausnahme bildet Lillis beste Freundin Edna. Doch selbst von ihr wird sie, wie von jedem anderen Gesprächspartner auch, schon während der ersten Silbe unterbrochen – vermutlich hat sich Jan für den Intro-Song selbst mehr Text geschrieben, als Hauptcharakter Lilli in der gesamten Vorschauversion hat. Sorgt dieser Witz am Anfang noch häufig für ein Schmunzeln, läuft er sich im Laufe des Spiels etwas ab, da sich die Arten, auf die Lilli unterbrochen wird, mit der Zeit wiederholen.
Jemand sagt etwas Nettes über Lilli, ein Moment mit Seltenheitswert
Ein weiteres Element, das Lilli mögliche Redearbeit abnimmt, ist der Erzähler. Er kommentiert, wenn sie sich etwas anschaut oder Aktionen durchführt. Über ihn erfahren wir viel über Lilli, die pflichtbewusst die ihr aufgetragenen Aufgaben erfüllen und den auferlegten Regeln folgen möchte. Leider gerät sie dabei immer wieder in Konflikte, da sich manche Probleme nur lösen lassen, wenn gewisse Vorschriften gebrochen werden. Lilli erklärt sich aber immer wieder, dass es nicht böse war, eine Regel zu brechen, da es unumgänglich war, um eine Auftrag zu erfüllen.

Manchmal passieren „Unfälle“

Lilli erledigt ihre Aufgaben häufig in Begleitung von folgenschweren Unglücken. Dies setzt sich im gesamten ersten Kapitel fort. Dass die Ereignisse dabei häufig vorhersehbar sind, scheint eine bewusste Designentscheidung zu sein, denn wenn ein steinerner Gargoyle bereits bedrohlich nah am Abgrund steht, liegt die Vermutung nahe, dass er im späteren Verlauf des Spiels eine Ebene tiefer liegen wird. Wenigstens scheint er beim Fallen niemanden verletzt zu haben, oder etwa doch...? Freilich treten auch einige unvorhersehbare Unglücke ein und nicht immer ist die erste Idee der tatsächliche Auslöser eines Unfalls, dennoch verringert sich der Effekt dieser Gags zusehends.
Glücklicherweise handelt es sich um eine überschaubare Klosterschule, sodass die Unfallopfer langsam aber sicher zur Neige gehen. Darüber hinaus sind die Kommentare des Erzählers, die Lillis Sicht oder besser Lillis Leugnen jedweder schlimmen Geschehnisse schildern, immer wieder unterhaltend. Es stellt sich die Frage, ob sie einfach hilflos naiv oder abgrundtief böse ist. Schaut man ihr aber in die traurigen schwarzen Knopfaugen und denkt daran, wie übel ihr mitgespielt wird, kann sie so böse doch gar nicht sein.
Unheilvoll erhebt sich das dunkle Holzkreuz in der Kapelle

Was macht eigentlich Harvey?

Nach all den Unfällen reicht es der Oberin schließlich, sie engagiert einen gewissen Doktor Marcel. Der in seiner Mobilität eingeschränkte Irrenarzt hat einen blauen Stoffhasen im Gepäck, dessen Augen durch rote Leuchtdioden ersetzt wurden. Der so präparierte Plüschhase ist Teil von Doktor Marcels neuester Hypnose-Therapie. Laut Oberin Ignatz ist eben die Krux mit den Kindern, dass sie sich ständig den Regeln widersetzen, damit soll nun ein für alle Mal Schluss sein!
Nach all ihren Fehltritten muss sich Lilli als erste dieser Therapie unterziehen. Hypnose-Harvey konditioniert Lillis Unterbewusstsein, was sich darin äußert, dass sie, jedes Mal, wenn sie im Begriff ist, ein Verbot zu überschreiten, einen Stromschlag spürt, woraufhin Harvey erscheint und sie über das entsprechende Verbot informiert. Brechen dieser Regeln wird zu einem aktiven Spielelement im zweiten Kapitel. Hierfür muss Lilli die Hypnose direkt in ihrem Unterbewusstsein bekämpfen. Wie diese Gegentherapie aussieht und wie diese Verbote als interessantes Element ins Rätseldesign eingewoben sind, soll an dieser Stelle nicht mehr verraten werden.
Der Tag geht, Dr. Marcel kommt

Rätselfaden

Ansonsten bestehen die Rätsel zum größten Teil aus herkömmlichen Inventarrätseln, bei denen Lilli häufig mehrere Aufgaben aufgetragen bekommt, beispielsweise soll sie sowohl der Oberin das Mittagessen, als auch der Katze das Futter zubereiten lassen. In der Regel erfordern diese Aufträge das Beschaffen weiterer Gegenstände, so rührt die Küchenchefin keinen Finger, bevor wir nicht den Ofen im Keller befeuert haben. Diese Rätsel machen Spaß und sind gut in den Spielfluss integriert. Eine willkommene Abwechslung bildet ein Logikrätsel, bei dem wir einem Greis eine wichtige Information entlocken müssen. Dummerweise hat jemand die Gedächtnisstütze des vergesslichen Graukopfs durcheinander gebracht. Lilli muss zunächst einen Fundus an geeigneten Objekten herbeischaffen, die dann anhand von Hinweisen geordnet werden müssen.
Obwohl man in der Regel mehrere Ziele gleichzeitig verfolgt, gibt das Spiel die Richtung vor. So erfährt Lilli relativ früh im Gespräch mit dem Klosterschulrowdy, der ihr die Aufgabenliste der Oberin abgenommen hat, wie sie ihn beeindrucken kann. Es müssen aber erst eine Menge anderer Rätsel abgearbeitet werden, bis ein Ereignis ausgelöst wird, welches Lilli schließlich einen (etwas zu) imposanten Auftritt ermöglicht. Harveys neue Augen ist zwar fair genug, das Eintreten solcher Ereignisse relativ deutlich zu machen – das Runaway-Syndrom bleibt somit aus – dennoch hinterlässt es häufiger das ungute Gefühl, dass das Spiel den Spieler steuert, nicht umgekehrt. Trotz dieser Schwächen sind die Rätsel gefällig und sicherlich eine Stärke des Titels.

Exzentrik am Wegesrand

Eine weitere Stärke sind die überdrehten Figuren, die Lilli immer wieder über den Weg laufen. Küchenchefin Doris ist eine davon. Ihre Erklärung, wie und warum sie der Oberin ihre Vergangenheit verschwiegen hat, ist ebenso einleuchtend wie erheiternd. Hier zeigt sich aber auch, dass das Design von überspannten Charakteren eine Gratwanderung ist. Lilli und Ednas Nachbarn im Schlafsaal, zwei ausgeflippte Girlies auf dem Japano-Trip, stellen sich nämlich vor allem als extrem nervig heraus. Letztendlich ist es natürlich Geschmackssache, welche Personen einem gefallen und welche nicht; überwiegend sind die Charaktere sicherlich gelungen und leisten einen wichtigen Beitrag zur Unterhaltsamkeit des Spiels.
Küchenchefin Doris, was sie wohl heute auf dem Speiseplan hat...

Technik

An der Steuerung hat sich seit der letzten Vorschau nichts geändert: Der Mauszeiger ist ein stilisierter Harvey-Kopf, dessen linke Seite mögliche Aktionen für Lilli anzeigt, die bei einem Linksklick ausgelöst wird, die rechte Seite zeigt an, ob ein Gegenstand betrachtet werden kann. Ein Doppelklick auf einen Ausgang befördert Lilli direkt in einen anderen Raum und ein Druck auf die Leertaste zeigt alle Objekte an. An einer Stelle gab es die Option, ein Sudoku-ähnliches Logikrätsel zu überspringen.
Die Hintergründe sind hoch aufgelöst und liegen im Breitbildformat vor. Sie wirken trotz des relativ einfachen Zeichenstils nicht allzu detailarm – offensichtlich wurde vor allem an Animationen gespart, die mit wenigen Frames auskommen müssen. Nicht gespart wurde hingegen an der Sprachausgabe, welche die gut geschriebenen Dialoge mit passenden Stimmen und Betonungen wunderbar zur Geltung bringt.

Ausblick

Alles in allem scheint Harveys neue Augen ein sehr stimmiges Adventure zu werden. Das Rätseldesign kann bisher am ehesten als robust bezeichnet werden, macht aber trotz der merklichen Linearität Spaß. Die Dialoge sorgen für einige Lacher und trösten so klar über einige Widersprüche und Vorhersehbarkeiten in der Handlung hinweg. Wir dürfen gespannt sein, was Kapitel zwei und drei letztendlich bieten werden. Bisher versprechen sie, durch die zusätzliche Rätselebene der Verbote, innovativere Rätsel und, durch die nicht mehr auf die Klosterschule beschränkte Handlung, weniger Vorhersehbarkeiten in der Story.
Diejenigen, denen Spielspaß wichtiger als neueste Technik ist, welche die eigentlich ernsten psychologischen Probleme von Lilli nicht zu ernst nehmen und altbewährte Rätsel in Adventurespielen mögen, sollten Harveys neue Augen auf jeden Fall selbst im Auge behalten. Den genannten Redakteur hat es jedenfalls überzeugt, direkt Edna bricht aus zu bestellen, womit auch die Frage beantwortet sein dürfte, ob man mit Harvey etwas anfangen kann, ohne Edna gespielt zu haben – unserer Meinung nach: Ja.

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Sieht gut aus